Hilfe für Angehörige
Angehörige und andere nahestehende Personen fühlen sich Betroffenen gegenüber häufig macht- und hilflos. Sie können sich das aus ihrer Sicht vollkommen übertriebene zwanghafte Verhalten nicht erklären. Es folgen manchmal gut gemeinte Ratschläge an den Betroffenen, den «gesunden Menschenverstand» zu benutzen, «sich zusammenzureissen» oder «mehr Disziplin» aufzubringen. Dies führt eher dazu, dass der Betroffene unter Druck gerät und sich unverstanden fühlt, als dass es weiterhilft.
Häufig nehmen Angehörige das zwanghafte Verhalten des bzw. der der Betroffenen persönlich: «Wenn ihr wirklich etwas an mir liegen würde, würde sie pünktlich kommen», lautete der Vorwurf des Partners einer Zwangskrankten, die wegen ihrer Kontrollen häufig zu spät kam. Hier kann die Erklärung, dass es sich dabei um die Symptome einer Zwangserkrankung handelt, den Partner entlasten und die Beziehung zur Betroffenen verbessern.
Angehörige werden zudem oft in die Zwangshandlungen mit eingebunden. Sie machen beispielsweise bei Kontrollritualen mit und übernehmen einen Teil der Kontrollen oder bestätigen immer wieder, dass etwas vom Betroffenen «richtig» gemacht wurde. Andere müssen sich Wasch- und Reinigungsprozeduren unterziehen, weil der oder die Betroffene befürchtet, dass sie die Wohnung mit Schmutz oder Keimen «kontaminieren». Gerade zu Beginn der Zwangserkrankung besteht bei Angehörigen häufig eine gewisse Bereitschaft, solchen Regeln des Zwanges nachzugeben, in der Hoffnung, dass dies eine Entlastung des oder der Betroffenen mit sich bringt. Längerfristig nehmen dadurch die Zwänge und damit zusammenhängend auch die Einbindung der Angehörigen jedoch zu: Der oder die Betroffene lernt dadurch nicht, sich mit seinen Ängsten auseinanderzusetzen und diese zu bewältigen und sucht vielleicht keine professionelle Hilfe auf, da es zu Hause ja «irgendwie geht». Und die nun oft folgenden Versuche der Angehörigen, sich den Ritualen zu widersetzen, scheitern häufig, es kommt zu Schuldgefühlen oder Ärger, letzteres insbesondere, wenn Betroffene fordernd oder aggressiv reagieren.
Schon wegen dieses wichtigen und oft sehr belastenden Themas wird empfohlen Angehörige in die Behandlung miteinzubeziehen. Das kann im ersten Schritt durch den Hausarzt bzw. die Hausärztin und dann später durch den Therapeuten bzw. die Therapeutin geschehen. Gemeinsam mit dem / der Betroffenen können auf diese Weise hilfreiche Strategien im Umgang mit schwierigen Situationen erarbeitet werden. Dabei sollte im Rahmen der Therapie schrittweise die Verantwortung wieder an die Betroffenen zurückgegeben werden, indem nach und nach auf das "Mitmachen" verzichtet wird.
Viele Angehörige, insbesondere Eltern, fürchten, durch eine vielleicht falsche Erziehung schuld an der Erkrankung des Betroffenen zu sein. Auch dieses Thema sollte offen mit dem Therapeuten bzw. der Therapeutin angesprochen werden. So können die Angehörigen entlastet werden, indem die vielfältigen psychologischen und biologischen Ursachen von Zwangserkrankungen erläutert werden. Zwangsstörungen haben immer viele Ursachen, Erziehung ist, wenn überhaupt, nur ein möglicher Faktor von mehreren.
Eine zusätzliche Einschränkung der Lebensqualität nicht nur der Betroffenen, sondern auch von Angehörigen entsteht dadurch, dass Zwänge zunehmend negative Auswirkungen auf gemeinsame Aktivitäten haben bzw. solche gar nicht mehr möglich sind. Daher ist ein nützlicher Grundsatz für Angehörige: Helfen Sie dem Betroffenen und nicht dem Zwang! Das "Mitmachen" von Angehörigen bei den Zwängen verfestigt und stärkt diese eher, als dass es etwas nützt. Den Betroffenen in seinen gesunden Anteilen stärken, ist die nachhaltigere Unterstützung. Fragen, um solche Möglichkeiten herauszufinden, lauten beispielsweise: Gibt es etwas, was ich wieder einmal mit der oder dem Betroffenen unternehmen kann, bei dem Zwänge keine grosse Rolle spielen? Worüber noch, ausser über Zwänge, können wir miteinander sprechen? Gibt es Dinge, die uns Freude machen und die wir häufiger machen können?
Ein wichtiger Punkt noch am Schluss: Angehörige engagieren sich oftmals stark für den Betroffenen, was ohne Frage sehr wertvoll ist. Sie sollten daher auch auf ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse achten und einen aktiven Alltag mit eigenen, ausgleichenden Aktivitäten leben, um selbst psychisch stabil zu bleiben. In diesem Zusammenhang taucht bei Angehörigen oft ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Betroffenen auf, weil sie sich dann mehr abzugrenzen müssen, um Freiräume für sich selbst zu schaffen. Hier kann die Sichtweise helfen, dass Angehörige den Betroffenen längerfristig besser unterstützen können, wenn sie selbst ausgeglichen und psychisch stabil sind.