Zwangsspektrumsstörungen
Zwangsspektrumsstörungen weisen Gemeinsamkeiten mit Zwangsstörungen, insbesondere in Form von Zwanghaftigkeit und Impulsivität. Emotional können unterschiedliche Gefühle auftreten.
Zwanghaftigkeit
Wiederkehrende, stereotypen Gedanken, Impulse und Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Sammeln und Horten oder zwanghaftes Haareausreissen, werden situativ auf eine unangemessene Art und Weise ausgeführt.
Impulsivität
Aufgrund einer ausgeprägten Impulsivität können die Handlungsimpulse nicht ausreichend unterdrückt werden.
Emotional
Angst ist dabei nicht die dominierende Emotion, vielmehr erleben die Betroffene das Ausführen der Handlungen als entlastend, angenehm oder belohnend.
Zu den Zwangsspektrumsstörungen zählen folgende Störungsbilder
Sammeln und Horten – zwanghaftes Sammeln
Unter Sammeln und Horten werden andauernde Schwierigkeiten bezeichnet, Gegenstände auszusortieren, sich von ihnen zu trennen oder wegzuwerfen, unabhängig von deren tatsächlichen Wert. Dies führt mit der Zeit zu einer übermässigen Ansammlung von Besitztümern.
Die Erkrankung wird in der ICD 11 unter die Kategorie der Zwangsstörungen und verwandten Störungen eingeordnet (6B24).
Sammeln ist ein weit verbreitetes menschliches Verhalten, das erst ab einem bestimmten Ausmass als krankhaft gilt. Als eigenständiges Krankheitsbild kommt es bei etwa 4% der Allgemeinbevölkerung vor. Männer und Frauen sind gleichermassen betroffen.
- Zwanghaftes Sammeln und Horten kann auch als Symptom im Kontext anderer psychiatrischer und neurologischer Störungen auftreten wie Schizophrenien, Demenzen, Essstörungen, Autismus-Spektrumsstörungen oder geistiger Behinderung.
- Erste milde Symptome beginnen oft in der Jugend und können durch belastende Lebenserfahrungen und Stress verstärkt werden.
- Die Erkrankung wird häufig von Depressionen begleitet und weist eine gewisse Verbindung zur Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADHS) auf.
Zwanghaftes Sammeln und Horten zeigt sich in
- Anhaltenden Schwierigkeiten, Gegenstände wegzuwerfen oder sich von ihnen zu trennen. Diese Schwierigkeiten resultieren einerseits aus dem Bedürfnis, die Objekte zu behalten und andererseits aus der Unsicherheit bzw. dem Stressgefühl bei dem Gedanken, die Objekte wegzugeben.
- Ansammlung von Besitztümern, die Wohn- oder Lebensbereiche übermässig vollstellen, so dass der Wohnraum nicht mehr für normale Zwecke genutzt werden kann.
Dies kann bis zur Vermüllung gehen und bedeutsame gesundheitliche und sicherheitsrelevante Risiken zur Folge haben in Form von Brandgefahr, Sturzgefahr in überfüllten Räumen und Infektionen durch verdorbene Waren. - Bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigung sozialer, beruflicher oder anderer wichtiger Funktionsbereiche. Konflikte und soziale Isolation können die Folge sein.
Der Entstehung von zwanghaftem Sammeln liegen biologische, psychologische und soziale Faktoren zugrunde.
Biologisch
- Eine familiäre Häufung weist auf gewisse genetische Faktoren hin.
- Neuere neurobiologischen Studien liefern Hinweise auf Unterschiede in der Hirnfunktion in Bereichen, welche für Entscheidungsfindung, Problemlösung und emotionale Regulation zuständig sind.
Psychologisch
- Psychologisch werden kognitive Fehlfunktionen in Bezug auf Entscheidungsfindung und der Organisation diskutiert.
- Emotional besteht eine starke Bindung an Objekte aufgrund von Erinnerungen oder damit verbundenen positiven Gefühlen.
- Das Sammeln dient der Vermeidung emotionalen Stresses durch Nicht-Sammeln oder das Vermeiden unangenehmer Gefühle, welche beim Wegwerfen entstehen könnten.
Sozial
- Es werden Zusammenhänge mit traumatischen oder belastenden Lebensereignissen beschrieben, wie z. B.: der Tod eines geliebten Menschen.
Körperdysmorphe Störung – Ängste vor körperlicher Verunstaltung
Die körperdysmorphe Störung beschreibt eine anhaltende und übermässige Beschäftigung mit vermeintlichen Mängeln des äusseren Erscheinungsbildes. Am häufigsten beziehen sich die Ängste auf das Gesicht oder auf einen als unzureichend muskulös wahrgenommenen Körper.
Die Erkrankung wird in der ICD-11 zu der Kategorie der Zwangsstörungen und verwandten Störungen gerechnet (6B21).
Die körperdysmorphe Störung betrifft Männer wie Frauen gleichermassen und kommt mit einer Lebenszeitprävalenz von 1,7 bis 2,9% in der Allgemeinbevölkerung vor. Häufiger Beginn in der Adoleszenz, zu einem Zeitpunkt mit instabilem Selbstwerterleben und ausgeprägten Schamgefühlen.
- Schleichender und chronischer Verlauf.
- Gleichzeitiges Vorkommen von sozialen Ängsten, Zwangsstörungen oder einer Dermatillomanie (skin picking disorder) sowie Depressionen im Verlauf
Die körperdysmorphe Störung beschreibt eine anhaltende und übermässige Beschäftigung mit einem oder mehreren wahrgenommenen Mängeln im äusseren Erscheinungsbild. Für andere sind diese nicht oder nur geringfügig erkennbar.
Dies geht einher mit:
- Ständigen Gedanken über das eigene Aussehen
- Sorgen um das Gesicht und seine Teile, welches als zu gross, zu klein, als asymmetrisch oder disproportional befunden wird.
- Starken Schamgefühlen und Ängsten
- Zwanghaften Verhaltensweisen zur Überprüfung des Aussehens
- Betrachten des eigenen Aussehens im Spiegel
- Befühlen des Makels
- Erstellen von Fotos und Videos
- Ausmessen von Körperteilen
- Einholen von Rückversicherungen zum Aussehen
- Zwanghaften Verhaltensweisen zur Abdeckung von wahrgenommenen Mängeln
- Camouflage, Schminken, Kämmen, Waschen, Rasieren etc.
- Intensives Bräunen der Haut
- Exzessiver Sport
- Hautmanipulationen (Herumdrücken und Kratzen)
- Übermässiger Inanspruchnahme von medizinischen und kosmetischen Behandlungen
- Vermeidung sozialer Situationen, welche den Stress erhöhen würden
- Ausgeprägtem seelischem Leiden und Beeinträchtigungen im Alltag
Der Entstehung einer körperdysmorphophoben Störung liegen biologische, psychologische und soziale Faktoren zugrunde.
Biologisch
- Hinweise auf Auffälligkeiten des Serotoninsystems
- Erhöhte Sensibilität für Ästhetik
- Temperamentseigenschaften
Psychologisch
- Negatives Selbstbild
- Hohe Empfindlichkeit gegenüber Kritik und Zurückweisung
- Kurzfristige Beruhigung durch Kontrollen und Verstecken bei langfristiger Verstärkung der Befürchtungen
Sozial
- Erfahrungen von frühen zwischenmenschlichen Traumatisierungen und Vernachlässigung
- Mobbing-Erfahrungen
Trichotillomanie – zwanghaftes Haareausreissen
Die Trichotillomanie beschreibt eine psychische Störung mit zwanghaftem Ausreissen der Haare bis hin zu einem sichtbaren Haarverlust.
In der ICD-11 wird die Trichotillomanie bei den körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörungen (6B25.0) aufgeführt.
In der Allgemeinbevölkerung kommt die Trichotillomanie mit einer Häufigkeit von 0.5 bis 1.05% vor.
- Beginn in jedem Lebensalter möglich, häufig mit ca. 13 Jahren
- In der Jugend Mädchen und Jungen gleichermassen betroffen, im Erwachsenenalter häufiger bei Frauen
- Chronischer Verlauf in Abhängigkeit von äusseren Stresseinflüssen
- Gemeinsames Auftreten mit Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen und Dermatillomanie.
Die Trichotillomanie beschreibt ein Verhaltensmuster, welches gekennzeichnet ist durch
- Zwanghaftes Ausreissen von Kopfhaaren, Wimpern oder Körperhaaren ohne medizinische Ursache.
- Meist erfolglose Versuche das Verhalten zu stoppen oder zu reduzieren.
- Vorausgehende innere Anspannung, Traurigkeit, Angst, Unsicherheit oder emotionale Leere, welche durch das Haareausreissen abnimmt.
- Das Haareausreissen selbst wird als angenehm und befriedigend erlebt.
- Ritualhafter Handlungsablauf.
- Sichtbarer Haarverlust und entzündliche Veränderungen.
- Ausgeprägte Schamgefühle und Vermeidung öffentlicher Situationen.
- Erhebliche Belastung und Beeinträchtigungen in persönlichen, sozialen, schulischen und beruflichen Belangen.
Es wird angenommen, dass in der Entstehung der Trichotillomanie eine Kombination aus genetischen, biologischen und psychologischen Faktoren eine Rolle spielt.
Biologisch
- Hinweise auf genetischen Einfluss
- Erhöhte Stress-Sensibilität
Psychologisch
- Traumatische Erlebnisse und zwischenmenschliche Verletzungen
- Vermindertes Selbstwertgefühl
- Schwierigkeiten der Emotionsregulation und Veränderte Impulsregulation
- Aufrechterhaltung durch kurzfristigen Stressabbau durch das Haareausreissen
Sozial
- Vermehrter Stress
Dermatillomanie – zwanghaftes Hautaufkratzen
Die Dermatillomanie, auch bekannt als Skin Picking Disorder, beschreibt ein krankhaftes Hautaufkratzen ohne Vorliegen einer ursächlichen Hauterkrankung.
Die Dermatillomanie wird in der ICD-11 im Kapitel der körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörungen (6B25.1) aufgeführt.
Die ungefähre Häufigkeit der Dermatillomanie wird in der Allgemeinbevölkerung auf etwa 1-5% geschätzt. Frauen sind etwa 3-mal so oft betroffen als Männer.
- Beginn in jedem Lebensalter möglich, häufig in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter,
- Häufig vorausgehende Hautveränderungen wie z. B: Akne.
- Zusätzliche psychische Erkrankungen wie z. B.: Zwangs- und Angststörungen, körperdysmorphophobe Störungen und Depressionen
Die Dermatillomanie ist gekennzeichnet durch zwanghaftes Kratzen, Reiben, Quetschen oder anderweitiges Manipulieren der Haut. Dies führt zu sichtbaren Schäden an der Haut mit Narben und Infektionen.
Dies geht einher mit:
- Ausgeprägten Gefühlen von Unsicherheit, Scham und Angst
- Erfolglosen Versuchen, das Verhalten zu reduzieren oder zu stoppen
- Versuchen, die Defekte zu kaschieren
- Erheblichem Leiden und deutliche Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen.
Das Verhalten kann nicht durch medizinische, dermatologische oder andere psychische Erkrankungen erklärt werden.
Die genauen Ursachen der Dermatillomanie sind noch nicht vollständig untersucht. Es wird angenommen, dass eine Kombination biologischer, emotionaler und sozialer Faktoren eine Rolle spielen könnte.
Biologisch
- Familiäre Häufung
- Vorausgehende, passagere Hautveränderungen
- Erhöhte Stressempfindlichkeit
Psychologisch
- Hinweise auf Veränderungen der Impulsregulation
- Defizite der Emotionsregulation
- Kurzfristiger Stressabbau durch das Kratzen
Sozial
- Medieneinflüsse
- Gesellschaftliche Schönheitsideale
Kleptomanie – Wiederkehrender Drang zum Stehlen
Die Kleptomanie zeigt sich in einem wiederkehrenden Drang, Gegenstände unabhängig von deren Nützlichkeit zu stehlen. Betroffene können diesem Drang nur schwer widerstehen.
Die Kleptomanie wird in der ICD-11 zu den Impulskontrollstörungen aufgeführt.
Die Kleptomanie ist eine vergleichsweise seltene psychische Erkrankung mit einer geschätzten Lebenszeitprävalenz von etwa 0.3% bis 0.6% in der Allgemeinbevölkerung und einem Überwiegen des weiblichen Geschlechts.
- Beginn häufig in der Jugend oder der frühen Adoleszenz.
- Häufig gleichzeitig weitere psychische Probleme in Form von Depressionen, Angsterkrankungen, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen, welche Ursache aber auch Folge der Kleptomanie sein können.
Klinisch zeigt sich die Kleptomanie in
- Einem wiederkehrenden Drang, Gegenstände zu stehlen.
- Diese Diebstähle sind in der Regel impulsiv und nicht durch Wut oder Rache motiviert.
- Stehlen ohne Erforderlichkeit (die gestohlenen Gegenstände sind meist von geringem Wert, haben weder einen persönlichen oder finanziellen Nutzen).
- Spannungsaufbau vor dem Diebstahl.
- Erleben von Lust oder Erleichterung beim Stehlen.
- Nachfolgende Gefühle von Scham und Schuld.
- Ausschluss anderer psychischer Erkrankungen.
Es wird angenommen, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Kleptomanie beitragen.
Biologisch
- Ungleichgewicht auf Ebene der Neurotransmitter
- Beeinträchtigung der Impulskontrolle
Psychologisch
- Emotionaler Stress und Schwierigkeiten der Emotionsregulation
- Kurzfristige Erleichterung und Vermittlung eines Hochgefühls durch den Diebstahl
Sozial
- Frühe Lernerfahrungen
- Soziale und kulturelle Einflüsse
Hypochondrie - Krankheitsangst
Die Hypochondrie, auch bekannt als Krankheitsangststörung, beschreibt eine überdauernde Sorge oder Angst, an einer oder mehreren ernsten, fortschreitenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen zu leiden. Diese Gesundheitsängste bestehen oft weiter trotz medizinischer Bestätigungen, dass keine ernsthafte Erkrankung vorliegt.
In der ICD-11 wird die Hypochondrie in der Kategorie der Zwangsstörungen und verwandten Störungen aufgeführt (6B23).
Die Lebenszeitprävalenz der Hypochondrie in der Allgemeinbevölkerung liegt schätzungsweise bei etwa 1-5% und betrifft Frauen und Männer gleichermassen.
- Beginn im frühen bis mittleren Erwachsenenalter
- Chronisch-fluktuierenden Verlauf
- Gemeinsames Auftreten mit Angststörungen, Depressionen und somatoformen Störungen
- Anhaltende und exzessive Angst oder Sorge vor einer oder mehrerer schwerwiegender, aber nicht diagnostizierter Erkrankungen.
- Die Angst bleibt bestehen, obwohl angemessene medizinische Untersuchungen keine solchen Krankheiten bestätigen.
- Zwanghafte Kontrollen des Körpers auf Krankheitsanzeichen und Recherche entsprechender Informationen.
- Gleichzeitig Vermeidungsverhalten in Form von Nichtwahrnehmen notwendiger Arzttermine
- Erheblicher Stress aufgrund der Gesundheitsängste und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen.
Die Hypochondrie unterscheidet sich von anderen Krankheitsbildern:
- Die Hypochondrie unterscheidet sich von Panikstörungen durch das kontinuierliche Vorhandensein von Ängsten trotz fehlender oder eher milder körperlicher Symptome. Bei der Panikstörung treten die Ängste situativ auf als Stressreaktion auf.
- Bei den somatoformen Störungen beklagen Betroffene dagegen dauerhafte Körpersymptome in mindestens zwei Organen mit geringer Ängstlichkeit und wünschen sich eine Erklärung oder Diagnose für diese Beschwerden.
Die Entstehung der Hypochondrie wird von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beeinflusst.
Biologisch
- Eigene schwere Erkrankung in Kindheit und Jugend verbunden mit angstvollen Erfahrungen und Trennung vom Elternhaus
Psychologisch
- Ängstlich-vermeidender oder zwanghafter Persönlichkeitsstil
- Selektive Aufmerksamkeitsfokussierung und katastrophisierende Fehlbewertungen von normalen Körperreaktionen
Sozial
- Angstfördernder Lebensstil
- Schwere Erkrankungen von Familienangehörigen, welche als bedrohlich erlebt wurden
- Ungünstige Modelle im Umgang mit Erkrankung
- Auslöser sind häufig belastende Ereignisse wie z. B.: ein Todesfall im nahen Umfeld.